Mit spitzer Feder …
In Zeiten noch nie da gewesener Scheidungsraten, Ghosting, und unendlicher Möglichkeiten, in Zeiten von ausserordentlichen Ereignissen wie der Pandemie, des Stroms- und des Gasmangels, die uns vor die grosse Herausforderung stellen, näher zu rücken, ist die Freundschaft die neue Nummer eins auf der Hitliste der lebenslangen, stabilen Beziehungen. Keine Nummer auf dem Handy ruft man in seinem Leben öfter an, wenn’s einem nicht gut geht, als die der guten Freundin, des guten Freundes. 20 Jahre oder mehr kennt man gewisse Freunde schon. Von damals von der Schule, dem Militär oder noch früher, als man zu zweit im Sandkasten buddelte, gemeinsam Glace lutschte oder im Geheimen etwas ausheckte. Diese Freundin, dieser Freund existiert vielleicht heute noch in Ihrem Leben. In meinem Leben gibt es diese jahrelange Beziehung. Sie war einfach immer da, in all den Jahren – ein zuverlässiger, ruhender Pol, ein Fels in der Brandung. Wenn Not am Mann ist, springen sie in die Bresche, helfen, unterstützen, beruhigen, retten, organisieren. Krankheiten, Liebeskummer, Unsicherheiten, Trennungen, Jobwechsel, Egotrips, Schweigen, schlechte Launen und schreckliche Outfits – alles hat meine beste Freundin mitgemacht. Viel, viel mehr, als viele Partner in Beziehungen bereit sind mitzumachen. In meinem Leben lernte ich schon viele Menschen kennen und immer wieder ergaben sich Freundschaft. Oft wusste ich vom ersten Blick, vom ersten Kontakt an, diese Energien stimmen, das passt – Volltreffer! Es ist wie wenn man einen Gold Nugget oder einen Diamanten gefunden hat, ein wertvolles Kleinod, eine seltene Rarität – etwas ganz Wertvolles, das gehegt und gepflegt werden muss, damit es sich zu seiner vollen Pracht entfaltet.
Oftmals sinniere ich – gerade in schwierigeren Zeiten – über die Liebe und eben über die Freundschaft! Als Teenager sah ich, wie bei meinen Freundinnen ihre ersten romantischen Freunde schlagartig einen höheren Stellenwert hatten als jahrelange Freundschaften. Warum sollen romantische Beziehungen mehr wert sein als freundschaftliche oder familiäre Beziehungen? Das verstehe ich bis heute nicht. Ein Grund dafür ist das aus heutiger Sicht ziemlich konservative Bild der (Hetero)Kleinfamilie, das sich partout nicht aus unserem Wunschdenken verabschieden möchte. Grund ist auch Hollywood, die Werbeindustrie, politische Bevorzugung und all die anderen Dinge, die romantische Beziehungen zum Nonplusultra erklären. Dabei wissen wir doch eigentlich alle, dass bei Freundschaft mindestens genauso viel Liebe im Spiel sein kann. Sie wird nur in andere, sehr viel individuellere Formen gepresst. Das ist auch der Grund dafür, wieso wir so selten auf die Idee kommen, dass wir uns gar keine romantische Beziehung «herbeitindern» müssen, bevor wir «ankommen» können. Wir alle haben bereits Menschen in unserem Leben, die dafür bestens geeignet sind: Unsere Freundinnen und Freunde. Freundschaft hingegen kommt in allen Formen und Farben daher, sie ist ein undefinierbarer Beziehungsblob, der sich ständig verändert, extrem individuell ist und bei dem man wenig rechtfertigen muss. Wenn zwei Menschen sich einig sind, dass sie gerne miteinander Zeit verbringen, dann ist es Freundschaft. Punkt, aus. Denn die Freundschaft ist der romantischen Liebe einiges voraus: Sie ist stabiler, denn sie verteilt sich auf mehrere Schultern, ist geduldiger und kann in der Regel besser mit Konflikten umgehen. Sie ist weniger unberechenbar, seltener toxisch und hält viel wahrscheinlicher ein ganzes Leben lang. Sie sorgt für einen grösseren Horizont und mehr Abwechslung. Unser Glück hängt von bedeutungsvollen Beziehungen ab – und die sind in vielen Fällen platonisch. Diese Erkenntnis hat mich sehr frei gemacht, denn solange ich Freundinnen und Freunde habe, muss ich mir keine Sorgen mehr machen um meine Zukunft!
Übrigens – zu meinem Freundeskreis zählen Menschen von 4 bis 90 Jahre. Meine kleinen Neffen sind genauso meine lebenslangen Freunde wie meine Schwester, mein Bruder und mein älterer Vater. Viele meiner Freundinnen sind einiges älter als ich – eine grosse Bereicherung für mich. Freundschaften über Generationen hinweg mögen selten sein, aber etwas vom Klügsten, was man tun kann. Sie funktionieren komplementär, zehren vom Erfahrungsschatz des Älteren, und jener fühlt sich in der Gegenwarte des Jüngeren wieder am Puls der Zeit.
Herzlichst,
Ihre Corinne Remund
Verlagsredaktorin